Sonntag, 13. Juni 2010

Unser Premierminister zu Gast im Kloster

Nachdem ich die Aufnahme des inspirierenden Vortrags von meinem kostbaren spirituellem Vater und Lehrer Geshe Pema Samten im Völkerkundemuseum gehört habe, in welchem er unter anderem von seiner Studienzeit in Sera erzählt, drängt es mich noch mehr Fleiß in mein eigenes Lernen zu legen, und so habe ich nun arrangiert doch wieder Tibetischunterricht von Sönam Wangden zu erhalten, den ich zu Gunsten des philosophischen Studiums zunächst ausgesetzt hatte. Mit etwas mehr Anstrengung schaffe ich sicher dann doch beides gleichzeitig, und wenn ich dafür wie Genla noch früher aufstehen muss, um heimlich im Maisfeld zu üben.
Das Maisfeld brauche ich dafür wahrscheinlich noch nicht mal aufzusuchen.
Alleine durch das Studium, welches natürlich vollständig in Tibetisch stattfindet, verbessert sich zwar mein Sprachverständnis, aber da das alltägliche Konversationstibetisch so verschieden ist von der philosophischen Sprache, sowohl in Vokabular als auch Grammatik, halte ich eine gesonderte Anstrengung für die ansonsten vernachlässigte Alltagssprache für wichtig.

 Vor einigen Tagen kamen einige neue Mönche aus Australien, die dort frisch ordiniert wurden. Somit ist die Zahl der "Westlichen" Mönche nun auf sagenhafte 14 gestiegen. 10 davon leben zusammen im IMI-Haus und die restlichen, so wie ich, in verschiedenen Häusern bei den Tibetern. Hoffentlich halten sie eine Weile hier aus und treten wie geplant nächstes Jahr dem Studienprogramm bei. Wie es mein Lehrer, Gen Tsewang Tobden, sagte, es gibt so wenige Westler die es her schaffen, und davon schaffen es so wenige lange hier zu bleiben, und von denen die lange hier bleiben schaffen es nur wenige das Studium zu vollenden. Je mehr also her kommen, desto größer die Chance am Ende einige ausgezeichnete Gelehrte zu hervorzubringen, die so dringend gebraucht werden.

Seit gestern Abend regnet es durchgehend. Ich freue mich darüber, es weht ein ziemlich kühler Wind, die dichte Wolkendecke hindert die Sonne daran ihre heißen Strahlen bis runter zu uns zu schicken, überall gibt es ein dezentes Prasseln und Plätschern als Geräuschkulisse, die Luft riecht nass und lebendig, die Pflanzen nutzen ihre Chance zur grünen Explosion und alles glitzert und schimmert. Am meisten freut mich die Abkühlung, während die Tibeter meines Hauses frieren, stelle ich mich in den nass-kalten Wind, schließe die Augen und denke: Nordsee.
Wenn es regnet fällt die Debatte aus oder ist wenigstens nicht obligatorisch. Manche gehen dennoch, debattieren dann unter einem schmalen, länglichen, überdachten Bereich des Debattierhofs. In diesem drängen sich dann viele hundert Mönche eng aneinander und müssen sich wegen der Lautstärke und des Halls gegenseitig in die Ohren schreien um sich zu hören. So wäre ich gestern auch beinahe ertaubt, weil es keine Mitte zwischen den Extremen zu geben schien; sich gar nicht zu hören oder die Vibrationen und den Luftausstoß des Debattierpartners als Schmerz auf meinem Trommelfell zu spüren. Zusätzlich ergab es sich auch noch, dass ich an einen Amdopa geriet, dessen Dialekt sehr stark ausgeprägt war. Der Dialekt aus Amdo wird glaube ich generell als derjenige akzeptiert, der für andere am schwersten zu verstehen ist. Später setzte sich Puntsog, ein Khampa meines Hauses, zu uns, und versuchte an dem Gespräch teilzunehmen, scheiterte aber daran kein Wort des Amdopas zu verstehen. Er wandte sich bei jedem Satz mit verzweifeltem Blick an mich, damit ich für ihn zwischen den beiden tibetischen Dialekten übersetzen sollte. Ich bin vielleicht geübter darin, aus einzelnen verstandenen Worten und dem Kontext einen passenden Gesprächsbeitrag zu erraten.
Bevor die Debatte begann, versammelten wir uns an der Straße entlang in einer langen Reihe mit weißen Schals und Blumen, um unseren Premierminister Samdong Rinpoche Lobsang Tenzin willkommen zu heißen, der unter den Tibetern überall als großer Gelehrter mit so vielen akademischen Errungenschaften gepriesen wird, dass man sie kaum innerhalb eines Lebens erreichen kann. Er ist für eine große Konferenz in Sera, zu welcher Repräsentanten aus den großen Klosteruniversitäten und den Tantra-Kollegs sowie Politik und Wissenschaft geladen sind. Die Themen sind unter anderem Wissenschaft und Buddhismus, Abschätzungen des Nutzens für die Klöster und den Buddhismus von mehr wissenschaftlicher Ausbildung in den Klöstern, eines "modernen Buddhismus". Da fast alle Exilklöster unserer Tradition und die tibetische Exilregierung repräsentiert sind, kann am Ende eine einheitliche Position vertreten werden.